Wie bleibt man jung, Rita Paul?
Rita Paul ist 96 Jahre alt und immer noch so cool wie ein Rockstar. Ohne die entsprechenden Allüren, versteht sich. Dass sie sich mit Rockstars auskennt, überrascht kaum: Im altehrwürdigen Washington Square Hotel, das ihre Familie seit fünf Jahrzehnten leitet, gingen Weltstars der Musik und Literatur jahrelang aus und ein. Felix hatte die große Ehre, Rita Paul und ihre Tochter Judy im Washington Square Hotel zu besuchen – und ihnen dabei zu lauschen, wie sie von Ritas Leben erzählen. Einem knappen Lebensjahrhundert, das ebenso ereignisreich wie erfüllt war.
An dieser Stelle fügen wir daher direkt einen kleinen Disclaimer ein: Felix und Rita haben sich auf Englisch unterhalten. Und während Ritas Gedanken nach wie vor messerscharf sind, ist sie mitunter etwas schwer zu verstehen. Wir empfehlen euch daher einen ruhigen Ort und volle Konzentration, um dieses Gespräch bestmöglich zu genießen.
Wir versprechen euch, es lohnt sich – denn Rita Paul nimmt uns mit auf eine bewegte Reise. Mit sechs Jahren flieht die 1927 in Berlin geborene Jüdin vor den Nationalsozialisten nach Paris, 1940 weiter in die USA. Heute ist Ritas Erinnerung an Deutschland flüchtig. Sie habe Berlin und die neuen Bundesländer bereist, erzählt sie. Ihre Heimat ist und bleibt aber New York. Auch ihre sprachliche. Ihr German sei nonexistent, nur an einige Wörter erinnere sie sich, darunter „Dingsbums“ – ein sprachliches Juwel.
In New York schließt sie die Schule ab und studiert Design. Ihr Vater, der bereits in Europa mit Immobilien handelte, kauft einige Häuser. Eines von ihnen verwandeln Rita und ihr Bruder in ein Hotel. Es folgen weitere, bis Rita und ihr Mann 1973 das Hotel The Earle am Washington Square Park übernehmen. „Es glich einer Müllhalde!“, erinnert sich Rita. Immer wieder seien Scheiben und Türen eingeschlagen worden, erst nach der Sanierung hörte der Vandalismus auf.
Trotz des elendigen Zustands: Das 1902 eröffnete Earle, das Rita und ihr Mann in den 1980ern umbenannten, war schon damals eine Instanz – Ernest Hemingway, Patricia Highsmith und Bo Didley kehrten dort ein, Folk-Songwriterin Joan Baez widmete dem Hotel sogar eine Songzeile. Ein popkultureller Ritterschlag, wenn auch kein glanzvoller: Now you’re smiling out of the window / Of that crummy hotel / Over Washington Square singt sie 1975 in ihrer Ballade Diamonds and Rust, in der sie mit ihrer einstigen Affäre Bob Dylan abrechnete.
Bob Dylan lebte wirklich eine zeitlang im Earle, allerdings bevor Rita und ihre Familie es übernahmen. Judy Paul nimmt es gelassen. „Wir hatten immer gehofft, dass Joan noch einmal zurückkommen würde, um zu sehen, dass das Hotel längst nicht mehr so schäbig ist wie damals, aber dazu ist es leider nie gekommen", erzählt sie lachend.
Würde Joan Baez das Washington Square Hotel noch mal besuchen, sie würde ihr Urteil sicher revidieren: Das crummy hotel, das sie einst besang, ist heute ein eklektisches Boutique-Hotel. Eines der wenigen in New York, das sich noch in Familienbesitz befindet. Und das nach wie vor von seiner einstigen Besitzerin (die unternehmerischen Zügel hat mittlerweile Judy Paul in der Hand) geprägt wird: Als passionierte Malerin hat Rita Paul sich an den Wänden des Hotels ausgelebt. Es gibt kaum eine, die sie nicht gestaltet hat. Sie habe aus reinem Pragmatismus begonnen, das Mauerwerk als Leinwand zu benutzen, sagt sie: „Als Malerin hätte ich keinen kommerziellen Erfolg gehabt. Also habe ich die Wände des Hotels genutzt – das hat funktioniert.“
Welche Wendungen ihr Leben in den USA für sie bereithielt, was sie über die deutsche Erinnerungskultur denkt und wie sich der Washington Square Park verändert hat, das alles und noch viel mehr erzählt uns Rita Paul in dieser wirklich wunderbaren Folge von Wunderbar Together. Auch eine Lebensweisheit gibt sie uns mit auf den Weg – und zwar, wie man nach fast einem Jahrhundert noch so offen und lebenslustig bleibt wie sie. Ihr Geheimnis wollen wir an dieser Stelle nicht direkt verraten – weil wir nichts vorwegnehmen wollen, vor allem aber weil es aus dem Mund einer 96-Jährigen einfach besonders Rockstar-mäßig klingt.